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Trinken wir auf das Leben und den Tod

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„Wir freuen uns auf Sie“, schrieb mir der Papa einen Tag bevor ich das erste Mal seine Familie besuchen gehen sollte. 
Freude darüber, dass ich komme, um mit ihm, den 2 Töchtern und seiner sterbenden Frau zu reden. 
Die Mama von Greta (5 Jahre) und Lea (13 Jahre) hat seit 3,5 Jahren Brustkrebs. Jeglicher Diagnose und Prognose hat sie getrotzt und gegen ihre Krankheit gekämpft. Seit einem halben Jahr erhält sie nun aber keine Therapien mehr, überall im Körper haben sich Metastasen gebildet und sie erhält nur noch eine Schmerztherapie. 
Sie weiß, dass sie bald sterben wird. Der Papa weiß es, die Kinder wissen es und doch spricht keiner darüber und schon gar nicht miteinander. 
Und nun komme ich - stelle direkte Fragen, spreche Dinge aus, nenne sie beim Namen. Die Mama weint viel, betrauert, dass sie ihre Kinder nicht aufwachsen sehen darf, nicht mehr für sie da sein kann. Dem Papa sprudeln die Worte nur so aus dem Mund. Greta sitzt dabei, spielt, aber hört ganz genau zu. Nur Lea fehlt, sie wollte heute nicht dabei sein, möchte mit niemandem über den bevorstehenden Tod reden. 
Der Mama fällt das Sprechen schon sehr schwer und doch erzählt sie das erste Mal von ihren Ängsten, ihren Wünschen und Vorstellungen - Dinge, von denen ihr Ehemann noch nie etwas gehört hat und für die er jetzt um so dankbarer ist. 
Ein Anfang ist gemacht, mir wird vertraut und ich darf wiederkommen. 
Morgen fahre ich mit unserer Begleiterin Sabine wieder zu ihnen, Sabine wird sich ganz und gar nur um die kleine Greta kümmern - denn sie möchte „ihre eigene Tante zum Reden“ haben, hat sie mir verraten. 
Ich hoffe, dass Lea morgen den Mut hat, zu Hause zu sein, wenn wir kommen. Ich hatte ihr einen kleinen Brief hinterlassen, in dem ich ihr geschrieben habe, wie gut ich sie verstehen kann und warum. Vielleicht fasst auch sie in Zukunft Vertrauen zu uns. 
Mit der Mama möchte ich die nächsten Treffen nutzen, um für beide Mädchen das Buch „Mama, erzähl doch mal“ auszufüllen. Jede soll ihr eigenes Erinnerungsbuch von der Mama bekommen. Damit sie auch in 10 oder 20 Jahren noch wissen, wie und wer ihre Mama war. Ich hoffe, wir haben noch ein ein paar Wochen Zeit dafür...

Kurz bevor ich beim ersten Mal das Haus wieder verlassen habe, wollte der Papa mir noch etwas gestehen. „Weißt du“ sagt er, „wir trinken jeden Abend ein Gläschen Eierlikör aus einem Schokowaffelbecher, das ist vielleicht nicht gut, aber es schmeckt meiner Frau doch so sehr.“ Ich finde das gut, sehe überhaupt keinen Grund, warum sie das nicht sollten und bitte darum, heute Abend auch einen Eierlikör mittrinken zu dürfen. 
Und so sitzen wir dann noch zusammen, halten unseren bis zum Rand gefüllten Schokowaffelbecher in der Hand und stoßen an - auf das Leben und den Tod!

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