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Angst vor dem Tod - und vor dem Leben

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Wenn ein 17-jähriges Mädchen den Wunsch hat, seine Oma beim Sterben zu begleiten, dann sollte das unbedingt ernst genommen und unterstützt werden. Eine Ärztin tat dies glücklicherweise und bat uns um Hilfe.

So lernte ich Lysann 2 Tage vor dem Tod ihrer Oma, bei der sie von Geburt an aufgewachsen ist, kennen. Es war ihr innigster Wunsch und tiefes Bedürfnis, die Oma nicht allein zu lassen und doch hatte sie Angst. Angst vor dem Moment, Angst vor dem Danach, Angst vor‘m Alleinsein, Angst vor dem Tod - und Angst vor dem Leben.

Ich holte Lysann ab und gemeinsam fuhren wir in‘s Hospiz. An diesem Donnerstagvormittag sprach und scherzte die Oma noch mit uns - es sollte das letzte Mal sein... Schon am selben Abend erhielten wir vom Hospiz die ernüchternde Information, dass die Oma die Nacht eventuell nicht überleben würde. Wie be- bzw. versprochen holte ich Lysann ab. Gemeinsam verbrachten wir mit Lysanns Tante die Nacht bei Kerzenschein im Hospiz, hörten Omas Lieblingslieder,... Lysann befeuchtete immer wieder die Lippen ihrer Oma, streichelte sie zärtlich, sie erzählten mir von sich und ihrer Oma bzw. Mama. Es war eine ruhige und entspannte Atmosphäre. Morgens 8 Uhr hatte sich der Zustand der Oma nicht viel verändert und so wagten wir es, nach Hause zu fahren, um ein paar Stunden zu schlafen. Aber schon 12 Uhr hielt es Lysann nicht mehr aus und wollte wieder in’s Hospiz.
Es kamen am Nachmittag noch andere Angehörige vorbei, die sich verabschieden wollten. 

Am Abend waren wir wieder in gleicher Konstellation, wie schon eine Nacht zuvor. So viele Stunden hatten wir über das Sterben und den Tod gesprochen - was sie eventuell erwartet, wie es sich vielleicht anhört, wie es aussehen kann, was danach passiert - alles, damit Lysann die Angst vielleicht ein klein wenig besser aushalten konnte.
Stündlich verschlechterte sich nun der Zustand. Als wir uns kurz nach 1 Uhr alle ganz ruhig hinsetzten bzw. legten, um vielleicht ein paar Minuten Schlaf zu erhaschen, veränderte sich schlagartig die Atmung der Oma und ich wusste in dem Moment: es handelt sich nun nur noch um wenige Minuten. Ich nahm Lysann und setzte mich mit ihr an’s Kopfende. Ich hielt sie fest und sie hielt ihre Oma. Und in diesem Moment schlich ganz leise das Leben aus ihrem Körper...
Keine Minute wich Lysann ihrer Oma danach von der Seite. Sie wollte sie gern mit umziehen, betten, einfach schön machen. Das Hospizpersonal war ganz liebevoll und gestattete ihr alles. Sie hatte weder Berührungsängste, noch Ekel, fand es nicht gruselig oder erschreckend. Es war das Natürlichste auf dieser Welt für sie, dies für ihre geliebte Oma zu tun.

In den frühen Morgenstunden verließen wir das Hospiz, wollten aber später noch einmal wieder kommen. Als Lysann 10 Uhr anrief - sie wollte so schnell wie möglich wieder in’s Hospiz - fragte ich sie, ob wir ein letztes Mal bei ihrer Oma Frühstücken wollen. Sie wollte! Beladen mit frischen Brötchen und lauter leckeren Dingen, die vor allem auch ihre Oma mochte, trafen wir also wieder im Hospiz ein. So saßen wir bei Kaffee und Frühstück im Zimmer der Oma, sprachen, weinten und lachten miteinander über die letzten gemeinsam erlebten Stunden. Lysann aß schon seit Tagen kaum und um so mehr freute es mich, dass sie nun zwei Brötchen vertilgte.
Nach vier weiteren Stunden im Hospiz, die Lysann auch noch brauchte, um sich zu verabschieden, fiel ich völlig übermüdet, aber zufrieden zu Hause in mein Bett - ohne ein wirkliches Gefühl für Zeit und Raum, aber umso mehr für die Dinge zwischen Himmel und Erde...

Ein so würdevolles Sterben und liebevolles Abschiednehmen würde ich mir für alle Menschen wünschen. Dann würde vielleicht einigen etwas die Angst genommen werden. Die Angst vor dem Moment, die Angst vor dem Danach, die Angst vor‘m Alleinsein, die Angst vor dem Tod - und die Angst vor dem Leben...

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